Weltfrauentag: Interview mit Kathrin Lemler
Weltfrauentag – Ein Grund zum Feiern und zur Besinnung
Von Lydia Schmölzl
Vor über 100 Jahren wurde er zum ersten Mal gefeiert, der internationale Tag der Frauen. Wir sprechen heute mit Kathrin Lemler, Referentin, Wissenschaftlerin und Frau, die ausschließlich mit den Augen spricht und sieben Personen koordiniert. Anschließend werfen wir einen Blick auf die Erfolge, die die Frauenbewegung bereits verbuchen konnte und die Hürden, die noch vor uns liegen.
Wir haben uns gefragt, wie der Alltag und das Leben von Frauen aussieht, die nicht nur andere Menschen koordinieren, sondern zusätzlich mit einer Behinderung leben und arbeiten.
Die Kölnerin Kathrin Lemler lebt mit infantiler (frühkindlicher) Celebralparese, die zur Folge hat, dass sie Probleme damit hat, ihre Muskeln kontrolliert zu bewegen. Manchmal ist da zu viel Muskelspannung, manchmal zu wenig. Alltägliche Dinge wie Laufen, Sitzen oder sogar Schlucken und Sprechen werden für sie zur Herausforderung. Aber Kathrin ist eben nicht einfach eine „Frau mit Behinderung“. Sie selbst beschreibt sich als „Rehabilitationswissenschaftlerin mit Masterabschluss, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln, Referentin für Unterstützte Kommunikation, Chefin von sieben Assistentinnen und ganz nebenbei auch als eine Frau, die ausschließlich mit den Augen spricht.“ Wir freuen uns sehr, dass wir sie für diesen besonderen Tag zu ihrem Leben und ihrer Arbeit interviewen durften:
Liebe Frau Lemler, vielen Dank dafür, dass Sie uns für ein Interview zum Weltfrauentag zur Verfügung stehen. Sie sind Expertin für Unterstützte Kommunikation in der Theorie und in der Praxis, denn Sie sind eine Frau die „ausschließlich mit den Augen spricht“. Wie erklären Sie einem Menschen, der mit Stimme, Mimik und Gestik kommuniziert, was es damit auf sich hat?
Ich versuche mich kurzzufassen. Das fällt mir beim Thema „Unterstützte Kommunikation“ immer besonders schwer, denn das ist nicht nur mein Beruf, sondern auch meine Berufung. Also, Unterstützte Kommunikation ist ein Fachbereich der Heil- und Sonderpädagogik. Ziel ist es, Menschen ohne Lautsprache die Mitbestimmung in jeglichen Alltagssituationen und die aktive Teilhabe an sozialer Interaktion zu ermöglichen.
Und wie funktioniert Unterstützte Kommunikation?
Die Methoden umfassen sowohl körpereigene Kommunikationsformen wie z. B. Mimik, Gestik oder Gebärden und Blicke als auch nicht technische Hilfen wie Symbol- bzw. Buchstabentafeln, aber auch elektronische Kommunikationshilfen wie Sprachcomputer.
Ich selbst nutze im Alltag verschiedene UK-Methoden. Zum einen verständige ich mich über einen augengesteuerten Sprachcomputer. In diesem ist eine Infrarotkamera eingebaut. Diese verfolgt meine Pupillen und berechnet aus dem Abstand zwischen Bildschirm und Pupillen, wohin ich gerade schaue. Schreiben funktioniert folgendermaßen: Ich tippe quasi mit den Augen auf einer Bildschirmtastatur. Nach ein paar Buchstaben werden mir Wörter vorgeschlagen. Diese Form der Kommunikation nutze ich mit Fremden. Wenn ich mit meinen AssistentInnen und Freunden rede, verwende ich meinen körpereigenen Buchstabencode. Über zwei Kopfbewegungen signalisiere ich meinem Gegenüber einen Buchstaben, daraus werden Wörter und Sätze. Durch diese beiden Kommunikationsformen kann ich genau das Leben führen, was ich gerne möchte.
Sie sind außerdem Wissenschaftlerin, Referentin und koordinieren in Ihrem Alltag sieben Assistenzen – Attribute für Menschen, die sicher im Leben stehen. Haben Sie ein Erfolgsgeheimnis?
Zu meinem 18. Geburtstag schenkte mir meine Mutter eine Karte: Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus.
Ich habe mein Leben einfach selbst in die Hand genommen und das Beste draus gemacht: inzwischen habe ich eine Stimme; inzwischen kann ich ein selbstbestimmtes Leben führen; inzwischen habe ich Technik, die mir Selbständigkeit gibt. Kurz, ich habe meinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Was will ich da noch mehr? Viele Leute, die mich das erste Mal treffen, denken, ich hätte riesiges Pech im Leben gehabt. Sie sehen meine Behinderung als saure Zitrone, die niemand mag. Ich sehe das ganz anders. Eine Zitrone ist eine herrlich gelbe Frucht. Ich musste nur das Richtige draus machen. Ich habe eine Weile überlegt und mich für leckere Zitronenlimonade entschieden.
Denken Sie, Ihr Werdegang ist davon geprägt, dass Sie eine Frau sind?
Natürlich hat mich mein Persönlichkeitsmerkmal „Mädchen/Frau“ geprägt, wie jedes meiner anderen Merkmale auch. Wie stark es für meinen Werdegang verantwortlich ist, kann ich jedoch nicht sagen.
Denken Sie, Ihr Werdegang ist davon geprägt, dass Sie eine Behinderung haben?
Ehrlich gesagt scheue ich mich davor meinen Werdegang einem bestimmten Attribut zuzuordnen. Ich denke eher, dass es die Kombination von Eigenschaften war, die mich dahin brachte, wo ich jetzt bin. Und natürlich spielt dabei auch meine Behinderung eine Rolle.
Heute, am 8. März ist der Internationale Frauentag. Die Frauenbewegung hat im vergangenen Jahrhundert viel erreicht. Welche Relevanz hat der Weltfrauentag ganz speziell für Sie?
Der Weltfrauenbewegung verdanke ich es, dass ich ein so selbstbestimmtes Leben führen und all die Tätigkeiten ausleben kann, die ich liebe. Ich bin also definitiv eine Nutznießerin der Bewegung. Dennoch ist die Gleichstellung der Frau noch nicht erreicht. Der Weltfrauentag kann Aufklärung leisten, über Ist-Zustände informieren und somit zum Nachdenken anregen.
Wieso ist die Diskriminierung von Frauen und speziell Frauen mit Behinderung heute noch so ein großes Thema, obwohl Gleichstellung, Gleichbehandlung und Genderdiskussion bestehen?
Frauen mit Behinderungen erleben häufig Diskriminierung in doppelter Hinsicht. Sie werden aufgrund ihrer Behinderung ausgegrenzt. Zudem sorgt ihr Persönlichkeitsmerkmal „Frau“ dafür, dass sie nicht gleichbehandelt werden.
Was halten Sie von dem Begriff der positiven Diskriminierung (z. B. Quotenregelungen; übermäßiges Mitleid für Menschen mit Behinderung; überschwängliches Lob für Menschen, die Dinge trotz ihrer Situation meistern)?
Positive Diskriminierung kann ich gar nicht leiden. Es ist mir sehr wichtig, gleich behandelt zu werden. Ich möchte keine Nachteile durch meine Behinderung oder mein Frausein haben, aber eben auch nicht bevorzugt behandelt werden.
Welche Rolle spielt der Umgang mit Diskriminierung in Ihrem Alltag? Gibt es Situationen, in denen Sie Erfahrung mit Diskriminierung machen?
Häufig schließen fremde Menschen von meinem körperlichen Zustand auf meine geistigen Fähigkeiten und behandeln mich wie ein kleines Kind. Ich versuche sie dann aufzuklären, da sie es ja nicht besser wissen. An manchen Tagen gelingt es mir in solchen Situationen geduldig zu bleiben, an anderen werde ich einfach wütend.
Haben Sie einen konkreten Ratschlag, wie wir alle dazu beitragen können, Diskriminierung zu vermindern oder zu beseitigen?
Wir müssen Raum für Begegnung schaffen – hierfür brauchen wir Geduld, auf BEIDEN Seiten! Nur wenn wir Menschen kennenlernen, merken wir, dass sie gar nicht so anders sind. Weder Frauen noch Menschen mit Behinderung. Durch Begegnung können Berührungsängste abgebaut werden und für Diskriminierung bleibt kein Platz!
Wenn Sie jetzt eine Nachricht an alle Smartphones dieser Welt schicken könnten, welche Nachricht wäre das?
Lernen Sie die Vielfalt von Menschen doch kennen, damit Sie Ihre Angst verlieren!
Dem haben wir nichts mehr hinzuzufügen. Vielen Dank für das Interview, Frau Lemler. Wir wünschen Ihnen und allen Frauen weiterhin viel Erfolg und heute einen wunderschönen Weltfrauentag! Denn es gibt viele Gründe, stolz zu sein und einiges, das noch Kraft erfordern wird:
Das hat sich schon verändert
Vieles, das für uns heute selbstverständlich ist, musste von Frauen über Jahre und Kontinente hinweg hart erkämpft werden. Da diese Pionierinnen so großartige Arbeit geleistet haben, würde es hier den Rahmen sprengen, jede Errungenschaft aufzuzählen. Wir haben uns deswegen ganz subjektiv auf einige konzentriert, die vielleicht sogar überraschend sind. Entweder weil es unvorstellbar scheint, dass es jemals anders lief oder aber, weil es auf den ersten Blick so unbedeutend wirkt, dass man es gerne übersieht, aber große Auswirkungen nach sich zieht.
Namen
Im „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, das am 1. Juli 1958 in Kraft getreten ist, wurde festgehalten, dass Frauen ihren Mädchennamen als Namenszusatz in der Ehe weiterführen dürfen. Erst seit 1977 darf auch der Name der Frau als Ehename gewählt werden. Bis 1991 blieb allerdings noch ein männlicher Stichentscheid bestehen. Das heißt: Konnten sich die Ehepartner nicht auf einen Namen einigen, wurde automatisch der Name des Mannes gewählt.
Jobs
Bis vor fünfzig Jahren durften Frauen nicht ohne Erlaubnis des Ehemannes arbeiten gehen. Und auch dann nur, wenn sie versichern konnten, ihre häuslichen Pflichten über den Job nicht zu vernachlässigen. Diesen Punkt führen wir hier auf, weil er in der momentanen Pandemie-Lage wieder besonders relevant ist. Wir müssen aufpassen, dass Corona uns nicht zurückwirft, denn im letzten Jahr waren es vor allem Frauen, die neben Homeoffice auch noch Homeschooling gewuppt haben. Eine Online-Befragung im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass verstärkt Mütter ihre Stunden im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit zurückgeschraubt haben (27 Prozent der Frauen, 16 Prozent der Männer in Haushalten mit min. einem Kind unter 14 Jahren).
Steuer
Steuern sorgen allgemein oft für Unmut, eine allerdings ganz besonders: die sogenannte Tampon-Steuer, also die Mehrwertsteuer auf Hygiene- und Periodenartikel für Frauen. Die wurden nämlich bis letztes Jahr noch mit dem regulären Satz von 19 Prozent besteuert. Nach mehreren Petitionen und lautstarken Protesten wurde der Steuersatz zum Jahreswechsel 2019/2020 auf die reduzierten 7 Prozent abgesenkt. Immer noch zu viel für Produkte, die Frauen mindestens einmal im Monat brauchen, um am Leben teilhaben zu können, sagen einige. Und tatsächlich gibt es Länder, die hier mit gutem Beispiel vorangehen. In Indien, Kanada und Australien wurde die Steuer auf Damenhygieneartikel komplett abgeschafft.
Das muss sich noch ändern
Gender Pricing
Nicht nur bei Periodenartikeln zahlen Frauen mehr (da Männer nun einmal keine benötigen). Auch bei anderen Drogerieartikeln sind Frauen oft im Nachteil. Das als „Pink Tax“ bekannt gewordene Ungleichgewicht, bezieht sich auf Pflegeartikel, von Bodylotion bis Rasiercreme. Während sich die Angebote für Männer und Frauen von den Inhaltsstoffen her kaum unterscheiden, wird der Unterschied im Preis sehr schnell deutlich. Eher „weiblich“ aussehende Produkte sind teurer, da Frauen im Bezug auf ihr Äußeres als weniger preissensibel gelten.
Pay Gap und Führungspositionen
Das Ungleichgewicht in der Bezahlung von männlichen und weiblichen Angestellten ist ebenfalls schon lange Thema in der Gleichstellungsdebatte. Umso trauriger ist es eigentlich, dass wir auch im Jahr 2021 noch darüber reden müssen. Bis zu 6 Prozent weniger verdienen Frauen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen in derselben Position. Das Stichwort Position leitet auch direkt das nächste Thema ein. Denn Frauen trifft man auf den Führungsetagen der Welt immer noch selten an. Um das zu beheben, wurde erst dieses Jahr am 6. Januar ein Gesetzesentwurf beschlossen, der unter anderem vorsieht, dass große deutsche Unternehmen mit mehr als drei Vorstandsmitgliedern in Zukunft mindestens eine Frau in ihre Ränge aufnehmen müssen.
Die Liste ließe sich noch sehr lang und in viele Richtungen fortführen, von #metoo über Sprachentwicklung wie dem generischen Maskulinum bis hin zu wirtschaftlichen und strukturellen Fragen – das Thema Gleichberechtigung und Gleichbehandlung ist sicher nicht einfach, aber dafür umso wichtiger.