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Bei der Arbeit ist seine Einschränkung unsichtbar

Ein muskulöser Mann in einem blauen T-Shirt. Er massiert den Rücken einer anderen Person.
Jeffrey Dahmen arbeitet gerne als Physiotherapeut. Fotos: Manfred Hogreve / LVR

Jeffrey Dahmen hat eine genetisch bedingte Sehbehinderung. Sein Sehvermögen liegt nur noch bei einem Prozent. Trotzdem arbeitet der 40-Jährige als Physiotherapeut in einer Praxis in Dinslaken. Dass er fast blind ist, fällt den meisten seiner Patient*innen nicht auf.

„Sardinien, Fanö oder Frankreich?“ Monika Becker steuert heute Richtung Fanö. Gefolgt von einem muskulösen Mann, der hinter ihr die Tür schließt. An der Wand hängt ein großes Bild. Es zeigt einen verlassenen Strand mit Dünen, im Hintergrund das Meer. Ein Schilfgewächs steht vor dem Fenster. Es riecht nach ätherischen Ölen. Fanö? In der Praxis „Hand Drauf“ in Dinslaken trägt jeder Therapieraum den Namen eines Urlaubsdomizils.

„Moni, du kannst dich schon mal hinlegen“, sagt Jeffrey Dahmen zu seiner Patientin und deutet auf die Behandlungsliege. Der 40-Jährige ist leitender Physiotherapeut in der Praxis. Dass er fast blind ist, fällt den meisten seiner Patient*innen nicht auf.

Seine Arbeit als Physiotherapeut gibt ihm Kraft

Als Jeffrey Dahmen 15 Jahre alt war, wurde bei ihm eine genetisch bedingte Sehbehinderung festgestellt. Von 100 Prozent Sehvermögen bleibt ihm jetzt nur noch ein Prozent. Noch sieht er Farben und Umrisse. „Der Angst darf ich keinen Raum geben. Natürlich kann es jeden Morgen passieren, dass ich aufstehe und völlig erblindet bin, aber diesen Gedanken lasse ich nicht zu“, sagt der 40-Jährige.

Ein muskulöser Mann in einem blauen T-Shirt. Eine andere Person drückt ihren Fuß gegen seine Schulter.
Bei der Arbeit spielt sein Sehvermögen keine Rolle.

Nicht nur seine Familie und Freunde, auch seine Arbeit gibt ihm Kraft und erdet ihn. Jeffrey Dahmen hat viele Krebspatient*innen behandelt und auch ein Kind, das bereits an ALS (amyotrophe Lateralsklerose) erkrankt war. Besonders ein Patient mit dem Guillain-Barré-Syndrom ist ihm noch heute sehr präsent. Er litt an einer entzündlichen Erkrankung der Nerven und einer damit einhergehenden Lähmung und Sensibilitätsstörung an Händen und Füßen, die sich allmählich immer weiter zum Körperstamm hin ausbreitet. „Er konnte am Ende seinen Kopf nur noch um zehn Grad nach links und rechts drehen. Dieser Mann hat mir einiges beigebracht in Sachen Lebenseinstellung“, erzählt der Physiotherapeut.

Ein anderer Patient hat mal nach einer abgeschlossenen Therapie zu ihm gesagt: „Jetzt habe ich wieder Bock zu leben.“ Der Mann hatte jahrelang starke Schmerzen gehabt und konnte sich kaum aufrichten. Jeffrey Dahmen gelang es, ihm die Schmerzen fast vollständig nehmen.

Unterstützung durch das LVR-Inklusionsamt

Auch Monika Becker hat schon lange starke Schmerzen aufgrund von Hüftproblemen. Außerdem leidet die 67-Jährige an den Folgen mehrerer Bandscheibenvorfälle und einer Sprunggelenkfraktur. „Störung der ganzen funktionalen Kette“, meint Jeffrey Dahmen. Monika Becker kontert: „Ich bin eine Großbaustelle.“

Mit seiner eigenen Krankheit beschäftigt sich der Physiotherapeut hingegen nur ungern. Erst als seine Augenärztin ihm mitteilte, dass er mit seiner anerkannten Schwerbehinderung auch Vorteile hätte, wandte er sich an den LVR. Das LVR-Inklusionsamt finanzierte die Erstausstattung am Arbeitsplatz. Auch die personelle Unterstützung für Bürotätigkeiten, die Jeffrey Dahmen nicht mehr alleine ausführen kann, ist beantragt. Der Technische Beratungsdienst hat ihm hierfür auch eine OrCam empfohlen. Das Gerät liest per Knopfdruck Texte von nahezu allen Oberflächen vor, erkennt Gesichter, Gegenstände, Farben und auch Geldscheine. Aber Jeffrey Dahmen ist sich noch nicht sicher, ob er das will.

Er sieht sich nicht als Opfer und er mag es überhaupt nicht, wenn andere ihn bemitleiden. „Ich lasse mich nicht über meine Krankheit definieren. Ich bin weit mehr als das“, betont der 40-Jährige. Ihm ist es am liebsten, wenn seine Behinderung unsichtbar bleibt.

Früher hat er in einer Buchbinderei gearbeitet

Seit 2011 arbeitet Jeffrey Dahmen als Physiotherapeut. Vorher hat er in einer Industriebuchbinderei gearbeitet, aber da machte er Fehler aufgrund seines geringen Sehvermögens. Bei seiner jetzigen Arbeit ist das anders. Hier empfindet Jeffrey Dahmen seine Einschränkung sogar in gewisser Weise als Gewinn. „Du bekommst eine ganz andere Haptik, wenn du so gut wie blind bist, weil du andere Reize ausschließt“, erklärt der Physiotherapeut.

Monika Becker ist von den Fähigkeiten des 40-Jährigen jedenfalls überzeugt. Sie ist ihm als Patientin in die Dinslakener Praxis gefolgt. Gerade jetzt, wo er seine Übungen beginnt, bereut sie diese Entscheidung allerdings für einen kurzen Moment. „Globale Spannungsregulierung über den langen Hebel der Beine“, nennt Jeffrey Dahmen das und ergänzt: „Dann bewegen wir das Bein und mobilisieren dadurch das Hüftgelenk.“ Monika Becker stöhnt.

Am Ende der Sitzung sind die beiden aber wieder miteinander versöhnt. „Ok, Moni, jetzt dreh' dich noch mal um." Er drückt seine Hände auf ihren Rücken. „Wenn du so weitermachst, fange ich an zu schnurren“, meint seine Patientin. Das geringe Sehvermögen ihres Physiotherapeuten spielt für Monika Becker keine Rolle. Aus ihrer Sicht macht Jeffrey Dahmen einfach einen guten Job.

Ein muskulöser Mann in einem blauen T-Shirt. Mit dem linken Arm hebt er das Bein einer anderen Person an.
Jeffrey Dahmen behandelt Patient*innen mit ganz unterschiedlichen Symptomen. Mit seiner eigenen Krankheit beschäftigt sich der Physiotherapeut nur ungern.

Kontakt zum LVR-Inklusionsamt

Website des LVR-Inklusionsamtes: www.inklusionsamt.lvr.de

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