Kinderleben in der Wohngruppe
Manche Kinder müssen ihren Alltag ohne Eltern meistern. Der 12-jährige Marko* lebt in einer betreuten Wohngruppe. Hier erfahrt ihr, wie es dort ist.
Von Rebecca Raspe
Marko kommt mit einer Mischung aus Neugierde und ein wenig Zurückhaltung auf mich zu. Er hat sich liebevoll frisiert, sein Schopf glänzt leuchtendschwarz. Überhaupt sieht er aus wie ein Junge, der genau weiß, was er aus den Untiefen eines vollgestopften Kleiderschranks hervorkramen muss, um ordentlich auszusehen. Schlank ist er, obwohl er sagt, dass er Haribos und Schokolade liebt.
Ein Blick in die Wohngruppe
Das Haus, in dem Marko wohnt, ist ein Wohnhaus mit Garten. Ein ganz normales Zuhause – aber nur fast. Denn hier leben elf Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 18 Jahren. Dass es viele Kinder gibt, sieht man sofort: An den Wänden hängen jede Menge Zeichnungen – selbstgemalt, mit Buntstiften oder Wasserfarben.
Im Wohnzimmer gibt es eine gemütliche Couchecke mit Fernseher, einen Kicker und einen Schreibtisch zum Hausaufgaben machen. Es stehen, wie in fast jedem Wohnzimmer, jede Menge eingerahmte Fotos auf den Regalen. Nur eine Sache ist anders: Es gibt zwar gerahmte Kinderfotos, aber keine Bilder von der Familie oder Erwachsenen.
Ein kleiner Hausherr
Marko wohnt in einer Wohngruppe der Evangelischen Jugendhilfe Godesheim, die Kinder aufnimmt und sich um sie kümmert, wenn die Eltern das nicht mehr schaffen. Die Gründe, warum ein Kind nicht bei seinen Eltern bleiben kann, sind unterschiedlich. Auch da, wo Marko wohnt, hat jeder Junge und jedes Mädchen seine eigene Geschichte. In ein Wohnheim zu kommen, ist ein neuer Lebensabschnitt. Marko kam vor zwei Jahren ins Godesheim.
„Am Anfang war das komisch, die Regeln waren so neu“, sagt er. Inzwischen ist er eines der älteren Kinder, und was zu tun ist, erklärt er gerne: „Es gibt acht Ämter, etwa das Flur- oder das Treppen-Amt. Vor Kurzem kam ein neues Amt dazu: Das Handtuchamt.“ Ui, welches Kind macht schon gerne Hausarbeit? Dennoch, die Aufgaben hat er gut im Kopf, weiß sie genau zu erläutern. Überhaupt stellt er die Räumlichkeiten vor wie ein kleiner Hausherr. Wer sich von Marko das Wohnheim erklären lässt, weiß über alles Bescheid.
Alles gut durchgeplant
Der Alltag ist für den Zwölfjährigen ähnlich wie für euch: Aufstehen, frühstücken, zur Schule gehen, nach Hause kommen und Mittag essen, Hausaufgaben machen. Danach gibt es eine Ruhestunde. Marko erzählt, dass er die gerne in seinem Zimmer verbringt. Er hat ein großes Zimmer im oberen Stockwerk für sich alleine! Nachmittags trifft er meist Freunde. Abends wird zusammen gegessen und – tja – nach dem Abendessen gibt es die Ämter. Aber auch Süßigkeiten als Belohnung fürs Helfen im Haushalt. An den Wochenenden organisieren die Betreuer Ausflüge. Eine Mitarbeiterin ist immer da, auch nachts: Neben der Haustüre gibt es ein kleines Büro, in dem ein Mitarbeiterbett steht.
Wenn die Familie fehlt, ist Mut wichtig
Der 12-jährige besucht eine Sekundarschule. Dort hat er auch seine besten Kumpels kennengelernt, die er nachmittags oft besucht. Wenn er nach Rat sucht, geht Marko zu Anita, die das Betreuerteam leitet. Anita erzählt etwas Trauriges: Viele in Wohngruppen untergebrachte Jungen und Mädchen trauen sich nicht, anderen Kindern zu sagen, dass sie nicht bei ihren Eltern wohnen. Manchen sei das peinlich, andere vermieden den Schmerz, nach der eigenen Familie befragt zu werden, die nicht da ist und vielleicht ein kleines, piekendes Loch im Herzen hinterlassen hat. Markos Freunde von der Schule wissen, wo er wohnt. Er hatte den Mut, es ihnen zu erzählen. Bestimmt ist er auch mutig genug, sein Leben zu meistern, wenn er groß ist. Ein bisschen Löwenherz schadet dabei nicht.
(*Name von der Redaktion geändert)